Anne und Patrick Poirier
Das künstlerische Lebenswerk von Anne und Patrick Poirier ist der Spurensicherung und Rekonstruktion von Geschichte gewidmet: „Unser Interesse gilt den verpassten Chancen der Vergangenheit und den Unwägbarkeiten der Zukunft.“ Was zunächst wie nostalgische Sehnsucht nach vergangenen Kulturen und Zivilisationen aussieht, spiegelt archäologische Verwurzelung und gesellschaftsutopische Vision wider, die das Künstlerpaar seit den späten 1960er Jahren verbindet.
Der Titel Occhio Piangente – Weinendes Auge bezieht sich thematisch auf den hinduistischen Pilgerort Ketas in Pakistan aus dem 9. /10. Jahrhundert. Nach einer Legende beweinte dort der Gott Shiva den Tod seiner Frau Sati. Mit seinen Tränen füllte er einen Teich, der daraufhin als Trinkquelle für die Bevölkerung wie als Ort spiritueller Erfahrung diente. Seit der Abspaltung Pakistans (1947) verfällt diese berühmte historische Pilgerstätte. Die Befestigungsanlagen sind nur noch als Ruinen erhalten. Vor diesem Hintergrund ist das Weinende Auge als Bild der menschlichen Erinnerung zu verstehen.
Die Skulptur Occhio Piangente im Gerisch-Park stellt ein in Lidfalten gebettetes Auge dar, aus dem sich ein langer, zu Boden fließender Tränenstrahl ergießt, der sich zu einem Stengel verdichtet, im Erdreich wurzelt und der Skulptur das Aussehen einer Pflanze gibt. In seiner Fragilität wird er zu einem Symbol für die Zerbrechlichkeit von Kulturen und zur Mahnung, kulturelle Werte vor ihrer globalen Verwischung zu bewahren.